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Sep 02, 2023

Francis Picabia: Catalogue Raisonné Band IV

1970 zeigte das Guggenheim Museum Francis Picabia, eine Ausstellung, die als erste Retrospektive des US-Museums über das Werk des 1879 in Paris geborenen Malers galt. Trotz der Absicht des Kurators William A. Camfield, Beispiele aus allen facettenreichen Perioden Picabias aufzunehmen Tatsächlich handelte es sich bei der Ausstellung nur nominell um eine Retrospektive. Sein Versuch, Picabias umstrittene und damals weitgehend ungesehene Gemälde aus dem Zweiten Weltkrieg aufzunehmen, wurde abgelehnt, so dass in der Checkliste eine Lücke von 1939 bis 1945 entstand. Mit der kürzlichen Veröffentlichung des vierten und letzten Bandes des Francis Picabia Catalogue Raisonné – einem Lebenswerk, dessen Co-Autor er ist – erreicht Camfield sein Ziel, die Serie über den Zweiten Weltkrieg bekannt zu machen. Das von Camfield, Candace Clements und Arnauld Pierre verfasste vierbändige Werkverzeichnis mit einem Vorwort von Beverley Calté umfasst 2.125 Werke aus verschiedenen Medien, vorwiegend Malerei und Zeichnung. Werkverzeichnisse können trockene Veröffentlichungen sein, aber der Picabia-Katalog ist aufgrund der ideologischen Kämpfe, die er führt, ein polemischer Seitenwender – passend zu Picabias parasitärem Leben und Werk, das der Öffentlichkeit wie nie zuvor zugänglich ist.

In der Gesamtbetrachtung wird deutlich, dass Picabia eine Bitterkeit, eine reflexive Ablehnung gegenüber den traditionellen Konventionen der Malerei hegte, das Medium aber nie ganz aufgab. Zu seiner Vorliebe für unkonventionelle Materialien, seiner Ablehnung der konventionellen Verfahren der Malerei gehören seine frühe Verwendung von Emaillefarbe, Plastik und hölzernen Streichhölzern sowie seine langjährige Vorliebe für Holz oder Pappe anstelle von Leinwand. Das sind die großen Dichotomien in Picabias Karriere: ein lebenslanger Maler, der die Malerei verabscheute, ein anti-akademischer Künstler, der in das Bild der Postmoderne passen würde.

Diese Dichotomien sind nirgendwo so präsent wie in den 518 Werken des vierten Bandes aus den Jahren 1940 bis 1953, deren Veröffentlichung es der Öffentlichkeit endlich ermöglicht, sich mit seinem kontroversen Schaffen während der Nazi-Besatzung Frankreichs auseinanderzusetzen. Die „Darstellung“ der Werke im Katalog lässt zugegebenermaßen zu wünschen übrig, denn bei den meisten handelt es sich um Miniatur-Farbreproduktionen. (Aber das Versprechen einer digitalen Version des Katalogs sollte dieses Problem lösen.) Den Abbildungen sind, sofern bekannt, die Originalbilder beigefügt. Es zeigt zum ersten Mal das volle Ausmaß von Picabias Engagement während des Krieges für die Schaffung figurativer Werke, deren Bilder er aus Fotografien von Models und Schauspielern in Magazinen wie dem Paris Magazine und dem Softcore-Porno Paris Sex-Appeal (definitiv keine faschistischen Medien) zusammengetragen hat. . Bei den Gemälden handelt es sich größtenteils um attraktive nackte weiße Frauen, die in Öl auf Karton gemalt und oft höllisch lackiert sind.

Picabia, die während des Krieges in der südlichen „Zone Libre“ Frankreichs lebte, stellte diese Gemälde aus und verkaufte sie – der Erlös war zum ersten Mal in Picabias Leben eine notwendige Einnahmequelle. Doch zur Zeit der Befreiung im Jahr 1944 und seiner Rückkehr nach Paris im Jahr 1945, die durch eine Untersuchung der französischen Behörden über seine mögliche Zusammenarbeit mit dem deutschen Nazi-Geheimdienst verlängert wurde, hatte sich Picabia bereits einem anderen Stil verschrieben, der sein letzter sein sollte: völlig abstrakt und nicht objektiv. Der Zweck einer Einzelausstellung in Paris im Jahr 1946 bestand laut Clements‘ biografischem Aufsatz darin, „den Künstler dem Pariser Publikum wieder vorzustellen und dabei seine Jahre, die er noch in der Zukunft verbrachte, weitgehend zu ignorieren.“ Nach der Befreiung verbannte Picabia die figurativen Besatzungsgemälde in Vergessenheit. Der Künstler hatte Einzelausstellungen 1949 in Paris und 1950 in New York. In beiden Ausstellungen waren seine figurativen Kriegsgemälde ausgeschlossen. Diese Auslassung legt die Möglichkeit eines besorgniserregenden Zusammenhangs zwischen Picabias künstlerischem Schaffen während der Besatzungszeit und seinem fragwürdigen politischen Verhalten nahe, was ein weiterer Beweis dafür ist, warum sie in der posthumen Guggenheim-Ausstellung von 1970 erneut weggelassen wurden.

1976 veranstaltete das Grand Palais in Paris die erste echte Picabia-Retrospektive. Es gab zahlreiche ethische Überlegungen zu Picabias Aktivitäten und antisemitischen Äußerungen während der Besatzungszeit, ebenso wie ästhetische Bedenken hinsichtlich der Ähnlichkeiten in Stil und Inhalt seiner Kriegsporträts mit offiziellen faschistischen Bildern. Hat Picabia ein Porträt Hitlers gemalt? Obwohl dies vermutet wurde, ist im Werkverzeichnis kein solches Porträt enthalten, und es wurde auch nicht bestätigt, dass es jemals existiert hat.

Es ist offensichtlich, dass die Frage nach dem Wert dieser Gemälde – ethisch (schlecht wie böse) und ästhetisch (schlecht wie hässlich) – weiterhin fraglich bleibt. Für die MoMA-Retrospektive 2016 bestand die Notwendigkeit, die ethischen und politischen Dimensionen von Picabias Besatzungsaktivitäten und künstlerischer Produktion neu zu beleuchten. Auf der Suche nach einer evidenzbasierten Klärung lieferte die Wissenschaftlerin Rachel Silveri einen Bericht über Picabias Chronologie nach der Befreiung: „Am 5. Oktober [1944] klagte die französische Sécurité militaire Picabia als ‚Kollaborateur und wegen Goldhandels‘ an; Fünf Tage später wird er ebenfalls wegen „Beziehungen zum deutschen Geheimdienst“ angeklagt. Er wird verhaftet und im Krankenhaus unter Polizeischutz gestellt. [...] Bis zum 15. Februar 1945 wurde Picabia „aus dem Krankenhaus und aus Polizeigewahrsam entlassen“, aber die Umstände bleiben unklar.“

Erstaunlicherweise lautet der entsprechende Eintrag in der „Selektiven Chronologie“ des Werkverzeichnisses einfach: „Herbst [1944]–Winter [1945]: Picabia wird nach einem Schlaganfall in Cannes ins Krankenhaus eingeliefert, wo der französische Militärsicherheitsdienst gegen ihn ermittelt, unter anderem wegen Kollaboration mit der Feind. […] 25. Dezember: [Picabia] wird aus dem Krankenhaus entlassen und es sind Ende Januar [1945] keine Anklageerhebungen anhängig.“ Letztlich wurde Picabia für vier Monate inhaftiert; In der neuen Analyse wurde Picabia kaum inhaftiert. In seinem Essay zum Werkverzeichnis, in dem er die Occupation-Gemälde verteidigt, wirft Arnauld Pierre Umland vor, Picabias Occupation-Serie mit Nazi-Kitsch identifiziert zu haben, was den Vergleich in der MoMA-Retrospektive 2016 „alles andere als offiziell“ macht.

Mit der Gesamtheit der Berufsporträts von Picabia vor uns können wir die Debatte besser verstehen. Sind diese Gemälde, die der Künstler selbst unterdrückt hat, parodistisch, Neo-Dada und Proto-Pop? Oder sind sie reaktionär, sympathisch faschistisch und geschmacklos, vielleicht im Einklang mit einigen der antisemitischen Kommentare des Künstlers? Diese Veröffentlichung ermöglicht es den Lesern, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, aber meiner folgt daraus, dass das Scheitern im Mittelpunkt der Occupation-Reihe steht. Die Kunsthistorikerin Aurelie Verdier, die am zweiten Band mitgewirkt hat, deren Stimme im vierten aber schmerzlich vermisst wird, hat postuliert, dass im Zentrum von Picabias Praxis eine Dialektik steht, die durch den Zustand des Scheiterns der Malerei definiert wird. Dass Picabia die Gemälde nach der Befreiung effektiv verurteilte, ist vielleicht aussagekräftiger als die eigentlichen Werke selbst.

Parker Fieldist ein in Brooklyn ansässiger Kunsthistoriker und Autor, derzeit Geschäftsführer der Arshile Gorky Foundation.

Parker Field
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